Home
Gedichte
Mathematisches


Die Zeit

Lästert nicht die Zeit, die reine!
           Schmäht ihr sie, so schmäht ihr euch!
Denn es ist die Zeit dem weißen
           Unbeschrieb'nen Blatte gleich.
Das Papier ist ohne Makel,
           Doch die Schrift darauf seid ihr!
Wenn die Schrift just nicht erbaulich,
           Nun, was kann das Blatt dafür?

                                           Anastasius Grün

Moderner Wissensborn

Ich kenn alle Reiche und Lande auf unserem Erdenrund,
Kann alle Städte und Märkte hersagen zu jeder Stund.
Ich kenn alle Berge und Täler, ich kenne jeden Vulkan,
Kenn Meere, Seen und Flüsse vom Nordkap bis Hindostan.
Ich kenn alle Götter und Götzen, die ganze Mythologie,
Ich kenne sämtliche Herrscher von jeglicher Dynastie.
Ich kenne auch alle Dichter und Künstler von Belang,
Staatsmänner und Würdenträger herab bis zum fünften Rang.
Ich kenne sämtliche Stoffe, die's gibt in der Chemie,
Ich kenne alle Gewächse und kenne jegliches Vieh.
Selbst die verzwicktesten Dinge, die niemand kennt, kenn ich,
Der "Brockhaus" und der "Meyer" sind Anfänger gegen mich!
Und fragt ihr, wer all dies Wissen, dies reiche, mir eingeflößt? -
Ich habe mehr als fünfhundert - Kreuzworträtsel gelöst!

                                             O. E. Wantalowicz

Ordnung

Ein Mensch, mit furchtbar vielen Sachen,
Will eines Tages Ordnung machen.
Doch dazu muß er sich bequemen,
Unordnung erst in Kauf zu nehmen:
Auf Tisch, Stuhl, Flügel, Fensterbrettern
ruhn ganze Hügel bald von Blättern.
Denn will man Bücher, Bilder, Schriften
In die gemäße Richtung triften,
Muß man zurückgehn zu den Quellen,
Um gleiches gleichem zu gesellen.
Für solche Taten reicht nicht immer
Das eine, kleine Arbeitszimmer:
Schon ziehn durchs ganze Haus die kühnen
Papierig-staubigen Wanderdünen,
Und trotzen allem Spott und Hassen
Durch strenge Zettel: Liegen lassen!
Nur scheinbar wahllos ist verstreut,
Was schon als Ordnungszelle freut;
Doch will ein widerspenstig Päckchen
Nicht in des sanften Zwanges Jäckchen.
Der Mensch, der schon so viel gekramt,
An diesem Pack ist er erlahmt.
Er bricht, vor der Vollendung knapp,
Das große Unternehmen ab,
Verräumt, nur daß er auch wo liegt,
Den ganzen Wust: Das Chaos siegt!

                                    Eugen Roth

Das Gummiband

Ein Mann steht vor dem Warenhaus.
Die Menschen gehen ein und aus.
Sie gehen aus - sie gehen ein.
Der Mann steht draußen ganz allein
Mit einem Hündchen an der Hand.
Die Frau kauft drin ein Gummiband.
"Ein kleines Stückchen Gummiband
Brauch' ich", so sprach sie - und verschwand.
Zuvor gab sie ihm ganz charmant
Die Hundeleine in die Hand,
lächelt' sehr freundlich und verschwand.
Nun kauft sie drin das Gummiband.

Die Glocke schlägt die Mittagsstund.
Der Mann steht darußen mit dem Hund
Und wartet vor dem Warenhaus.
Die Menschen gehen ein und aus.
Sie gehen aus - sie gehen ein.
Der Mann steht draußen ganz allein,
Die Hundeleine in der Hand.
Die Frau kauft drin ein Gummiband.
Der Mann geht wartend hin und her,
Sein Magen knurrt - ihn hungert sehr.
Er wandelt her- er wandelt hin,
Der Bart sprießt ihm schon aus dem Kinn.

Die Glocke schlägt die Vesperstund.
Der Mann steht draußen mit dem Hund
Und wartet vor dem Warenhaus.
Die Menschen gehen ein und aus.
Sie gehen aus - sie gehen ein.
Der Mann steht draußen ganz allein,
Die Hundeleine in der Hand.
Die Frau kauft drin ein Gummiband.
Dem Manne wuchs bereits ein Bart.
Der Hund hat sich indes gepaart.

Es brach die dunkle Nacht herein.
Noch immer steht der Mann allein,
Die Leine in der welken Hand,
Lallt wie im Fieber: "Gummiband."
Er wankt mit schlotternd müden Knien -
Halb zieht er ihn - halb sinkt er hin.
Es flimmert vor den Augen ihm.

Die Glocke schlägt dreiviertel siem.
Da huscht sie leichtbeschwingt hinaus
Zu Mann und Hund vors Warenhaus.
Sie lacht mit strahlend heller Mien'.
"Hast du gewartet?" fragt sie ihn.
Er murmelt schwer und lebensmüd:
"O nein." Dann seufzt' er - und verschied.
So gingen denn ein Mann nebst Hund
An einem Gummiband zu Grund.

                                Fred Endrikat




Top